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Augenbewegung und ADHS

Warum ein Okulomotorik-Assessment so wertvolle Einblicke liefert

ADHS ist weit mehr als eine Aufmerksamkeitsstörung. Dahinter steckt eine komplexe Dysregulation neuronaler Netzwerke, die Wahrnehmung, Motivation, Impulskontrolle und motorische Präzision steuern.


Ein besonders spannendes Fenster in diese Prozesse bieten die Augenbewegungen – denn sie zeigen in Echtzeit, wie das Gehirn Reize verarbeitet, Erwartungen aufbaut und Reaktionen steuert.


Das Auge als Spiegel neuronaler Kontrolle

Jede Augenbewegung – ob bewusst oder unbewusst – ist das Ergebnis einer fein abgestimmten Kommunikation zwischen Frontalhirn, Basalganglien, Kleinhirn und Hirnstamm. Das Frontal Eye Field (FEF) im präfrontalen Cortex entscheidet, wohin der Blick gelenkt wird, das Superior Colliculus leitet das Signal an den Hirnstamm weiter, und das Kleinhirn sorgt dafür, dass die Bewegung präzise und im richtigen Moment gestoppt wird.


Wenn diese Steuerung nicht harmonisch abläuft – etwa durch Dysfunktionen im fronto-cerebellären Netzwerk oder eine gestörte Modulation durch das noradrenerge Arousal-System – entstehen charakteristische Muster, die sich bei ADHS-Patienten deutlich nachweisen lassen. Dazu gehören nicht nur unruhige Sakkaden (u.a. sogenannte "Catch Up Saccades") und kurze Fixationszeiten, sondern auch eine veränderte Blinzelfrequenz, gestörte Mikrosakkadenkontrolle und fehlende Inhibition während der Reizantizipation.


Wenn das Gehirn das „Innehalten“ verlernt: Blinzelfrequenz und Inhibition

Die Arbeit von Fried et al. (2014) hat gezeigt, dass Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben, ihre Blinzel- und Mikrosakkadenaktivität zu unterdrücken, wenn sie ein visuelles Ereignis erwarten. Normalerweise reduziert das Gehirn in dieser Phase – also während der Erwartung eines wichtigen Reizes – automatisch die Blinzelrate. Das ist sinnvoll: Ein Blinzeln unterbricht den visuellen Input für etwa 100–150 Millisekunden und könnte relevante Information verpassen.


Bei ADHS bleibt diese präventive Hemmung aus. Die Probanden blinkten häufiger und unkontrollierter, zeigten mehr Mikrosakkaden (kleinste unwillkürliche Blickbewegungen während der Fixation) und konnten ihre visuelle Aufmerksamkeit nicht stabilisieren.Das Ergebnis: Das System war „sensorisch unruhig“. Die Augen – und damit auch die Wahrnehmung – sprangen unkontrolliert zwischen Reizen hin und her.


Neurophysiologisch lässt sich das auf eine mangelhafte präfrontale Inhibition zurückführen, insbesondere in der Verbindung zwischen FEF, Basalganglien und Superiores Colliculus. Hier sollte normalerweise eine tonische Hemmung ablaufen, die spontane motorische Mikroimpulse unterdrückt, um Fokus und Erwartung aufrechtzuerhalten.Fehlt diese Hemmung, ist der Blick ebenso sprunghaft wie die Gedanken.


Interessant: Nach der Gabe von Methylphenidat normalisierte sich das Muster fast vollständig – die Blinzelfrequenz sank, Mikrosakkaden wurden seltener, und die visuelle Erwartungsantwort stabilisierte sich. Das unterstreicht eindrucksvoll, wie eng Dopamin- und Noradrenalinaktivität mit der Fähigkeit verknüpft sind, motorische und sensorische Impulse zu kontrollieren. Eine Examination der Okulomotorik kann daher ergänzend aufzeigen, ob ein Medikament entsprechend Wirkung zeigt.


Sakkaden, Fixationen und die cerebelläre Feinabstimmung

Neben der frontalen Inhibition spielt das Kleinhirn eine zentrale Rolle in der Feinkontrolle der Augenbewegungen. Normalerweise stoppt der Fastigial nucleus jede Sakkade exakt im richtigen Moment. Wenn diese „Bremse“ zu spät greift – wie bei cerebellärer Dyskoordination – kommt es zur Hypermetrie: Das Auge schießt über das Ziel hinaus und muss eine Korrektursakkade ausführen.


Dieses Phänomen wurde in mehreren Studien beobachtet, unter anderem in der Arbeit von Munoz & Everling (Vision Research, 2014). ADHS-Patienten zeigten dort variablere Sakkadenlatenzen und eine geringere Präzision, was auf eine ungenaue Timing-Kontrolle im Kleinhirn hinweist. Das passt zu der Annahme, dass viele Symptome des ADHS – etwa Impulsivität oder motorische Unruhe – weniger durch „Überaktivität“ als durch Fehler in der zeitlichen Feinabstimmung neuronaler Signale entstehen. ADHS-Patienten zeigen in Bezug auf mangelnde Inhibition, Rhythmus und Feinmotorik auch Abweichungen in anderen motorischen Bereichen, z.B, im Gangbild.


Arousal, Pupillen und die Rolle des Locus Coeruleus

Auch die Regulation des Arousals – also des allgemeinen Aktivierungsniveaus des Gehirns – lässt sich über die Augen objektiv messen. In einer Studie von Lundin Kleberg et al. (2023) wurde gezeigt, dass Kinder mit ADHS veränderte Pupillenreaktionen und abweichende Blickreaktionen auf Reize zeigen. Ein größerer sogenannter phasic alerting effect – also eine starke Verkürzung der Reaktionszeit nach einem Warnreiz – sagte höhere ADHS-Symptome zwei Jahre später voraus.


Zudem zeigte sich, dass eine verringerte Pupillendilatation während der Aufgabe mit mehr externalisierenden Symptomen (z. B. Impulsivität, oppositionelles Verhalten) korrelierte. Die Pupillenreaktion ist ein direkter Indikator für die Aktivität des Locus coeruleus–Noradrenalin-Systems, das Arousal, Aufmerksamkeit und motorische Reaktionsbereitschaft steuert. Diese Daten deuten darauf hin, dass ADHS nicht nur eine Störung der Aufmerksamkeit, sondern auch eine Störung der Arousal-Feinregulation ist – das Gehirn schaltet zu stark oder zu schwach auf Reizsignale. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass ein "Zuviel" oder "Zuwenig" vorliegt. Das gesamte System ist dysfunktional.


Eye-Tracking in der Diagnostik – objektiv, sensibel und praxisnah

Die Forschung von Lee et al. (2023) hat gezeigt, dass Eye-Tracking weit mehr leisten kann als klassische Aufmerksamkeitstests.In ihrer Studie erreichte Eye-Tracking allein eine Trefferquote von 0.856 – kombiniert mit kognitiven Tests sogar 0.889. Kinder mit ADHS fixierten Reize kürzer, zeigten mehr Blicksprünge und weniger zentrale Fixationen. Nach Gabe von Methylphenidat normalisierten sich diese Muster signifikant.

Damit liefert Eye-Tracking nicht nur diagnostische Präzision, sondern auch ein objektives Maß für Therapieeffekte. In klinischen oder neurofunktionellen Settings kann es daher helfen, die Wirksamkeit von Interventionen sichtbar zu machen – ob durch Medikation, Neurotraining oder Aufmerksamkeitsübungen.


Was wir aus all dem lernen können

Augenbewegungen sind ein sensibler Indikator für das Gleichgewicht zwischen Aufmerksamkeit, Arousal und Inhibition.Sie zeigen, ob ein Gehirn in der Lage ist, Reize zu erwarten, Störsignale zu unterdrücken und Bewegungen präzise zu kontrollieren – oder ob es ständig in einem Zustand kleiner, unkontrollierter Mikroimpulse verharrt.

Ein Okulomotorik-Assessment kann Fachleuten helfen, ADHS differenzierter zu verstehen und Behandlungen gezielter zu steuern.Es bietet:


  • Objektive Marker für Inhibition und Arousal,

  • Verlaufskontrolle für Interventionen,

  • Einblicke in dopaminerge und cerebelläre Dysregulationen,

  • und eine Möglichkeit, neuronale Funktionen sichtbar zu machen, die sonst nur indirekt erfassbar sind.


Neurovisuelles Training bei ADHS – was die aktuelle Evidenz hergibt

Kurz gesagt: Es gibt inzwischen mehrere kontrollierte Studien (inkl. randomisierter Designs), die zeigen, dass okulomotorisch-neurovisuelles Training bei Kindern mit ADHS messbare Verbesserungen erzielt—vor allem bei Sakkadenpräzision/Latenz, inhibitorischer Kontrolle (Anti-Sakkaden), Fixationsstabilität und teils kognitiven Domänen (Aufmerksamkeit, visuo-räumliches Arbeitsgedächtnis). Die Datenlage ist ermutigend, aber noch heterogen und meist mit kleinen Stichproben und kurzen Follow-ups. Ich arbeite mit neurovisuellem Training bereits seit 2012 und habe dieses Thema auch in diversen Ausbildungen von mir zum Thema gemacht, u.a. in der Ausbildung zum Concussion Rehab Specialist und zum Functional Neurology Coach.


Das Prinzip ist einfach, aber wirkungsvoll: Wer die Bewegungen der Augen präziser steuern kann, trainiert gleichzeitig präfrontale Hemmung, sensorische Integration und cerebelläre Feinkoordination – genau jene Systeme, die bei ADHS häufig dysfunktional sind.


Die wissenschaftliche Evidenz zu neurovisuellem Training wächst stetig, auch wenn sie noch jung ist. Mehrere kontrollierte Studien haben gezeigt, dass bereits kurze, gezielte Trainingsphasen messbare Verbesserungen bewirken können.


In einer Studie von Luna et al. (2019) trainierten Kinder mit ADHS über zwei Wochen ein spezifisches Eye-Tracking-Programm, das Pro- und Anti-Sakkaden beinhaltete. Nach nur 240 Minuten Training zeigten sie bessere Blickgenauigkeit, eine schnellere Sakkadenplanung und weniger inhibitorische Fehler – also weniger unkontrollierte Blicksprünge. Diese Fortschritte betrafen genau die Bereiche, die in der ADHS-Forschung als neural „unterreguliert“ gelten: die frontalen Steuerzentren und die Kleinhirn-Feinabstimmung.


Eine zweite Studie aus demselben Forschungsumfeld ging noch weiter. Nach einem identischen Trainingsprotokoll verbesserten sich bei den Teilnehmenden nicht nur die okulomotorischen Parameter, sondern auch die Aufmerksamkeit und das visuelle Arbeitsgedächtnis. Das legt nahe, dass die positiven Effekte des Trainings auf kognitive Funktionen übertragen werden können – also über reine Motorik hinausgehen.


Auch andere Ansätze, etwa visuo-posturale Trainingsformen, zeigen ähnliche Resultate. Wenn Kinder gleichzeitig ihre Augenbewegungen und Körperhaltung koordinieren – etwa beim Fixieren eines Ziels während leichter Balancebewegungen – verbessert sich nicht nur die Blickstabilität, sondern auch die sensorische Integration. Das Gehirn lernt, visuelle, vestibuläre und propriozeptive Signale besser miteinander zu verknüpfen – ein wichtiger Mechanismus, um Reizüberflutung zu reduzieren und fokussiert zu bleiben. Diese Form des Trainings ist natürlich nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene sinnvoll.


Warum neurovisuelles Training so spannend ist

Die Verbindung zwischen Blicksteuerung und kognitiver Kontrolle ist kein Zufall.Sakkaden, Mikrosakkaden und Fixationen sind Ausdruck der zeitlichen Taktung im Gehirn – sie entstehen in Schleifen zwischen präfrontalem Cortex, Basalganglien, Kleinhirn und Locus coeruleus. Wenn diese Taktung durch ADHS gestört ist, wirkt sich das auf den gesamten Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozess aus.

Neurovisuelles Training setzt genau hier an: Es stärkt die neuronalen Rückkopplungen, die für präzises Stoppen, Antizipieren und Filtern notwendig sind. Studien zeigen, dass nach gezieltem Training nicht nur die Augenbewegungen stabiler werden, sondern auch Aufmerksamkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und Selbstregulation profitieren.


Damit könnte das Training – ähnlich wie neurofeedbackbasierte Verfahren – eine ergänzende, nicht-medikamentöse Therapieoption sein, um die funktionelle Vernetzung im Gehirn zu verbessern. Besonders interessant ist, dass die Verbesserungen objektiv messbar sind – über Eye-Tracking-Parameter wie Fixationsdauer, Sakkadenlatenz oder Blickvariabilität.


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Fazit: Der Blick als Biomarker des Gehirns

Das Auge ist nicht nur das „Fenster zur Seele“, sondern vor allem das Fenster zum präfrontalen und cerebellären Netzwerk.Wer bei ADHS verstehen möchte, warum Aufmerksamkeit instabil ist, sollte nicht nur Verhalten oder Leistung betrachten – sondern auch, wie das Gehirn die Augen kontrolliert.

Denn in diesen kleinen, schnellen Bewegungen steckt die ganze Geschichte von Fokus, Inhibition und neuronaler Balance.


Möchtest du tiefer in die neurovisuelle Exmaination einsteigen? Schau dir dazu unseres neues Expertenvideo an. In diesem zeige ich auf, wie z.B "Catch Up Saccades" entstehen und wie sich diese behandeln lassen.

 
 
 

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