Stretching: ja oder nein?
Häufig wird debattiert, ob Stretching (Dehnen) sinnvoll ist oder nicht. An dieser Stelle möchte ich mich dem Thema "Stretching" etwas näher widmen und meine Sichtweise unter Berücksichtigung der aktuellen Studienlage darstellen.
In meinem Buch "Das Mobility Handbuch" stelle ich mich dem Stretching äußerst kritisch gegenüber. Dennoch sind in dem Buch einige Stretching-Übungen zu finden. Wie kann das sein? Stretching ist nicht grundsätzlich schlecht oder unnötig. Es hängt immer von der Zielsetzung ab, die man damit verfolgt. Daher sollte man sich zu Beginn immer die Frage stellen: wofür dehne ich mich eigentlich?
Es gibt verschiedene Gründe, um sich zu dehnen. Im Folgenden habe ich einige gängige Gründe für das Dehnen aufgelistet:
- Als Bestandteil des Warm Ups
- als Verletzungsprophylaxe
- Vorbeugung von #Muskelkater
- zur Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit
- zur Erhöhung der Flexibilität
- zum besseren Wohlbefinden
In manchen Sportarten ist das Dehnen immer noch Bestandteil des Aufwärmens. Mittlerweile sind viele Sportler vom statischen #Dehnen zum dynamischen Dehnen gewechselt. Dies liegt vermutlich daran, dass statisches Dehnen die Verletzungswahrscheinlichkeit nicht reduziert, sondern sogar erhöhen kann (1). Dazu sagte Bob Cooper vom Runner´s World Magazin:
"In my experience runners who stretch are injured more often, and when they stop stretching, the injuries often go away”.
Natürlich gilt es zu berücksichtigen, wie häufig und wie intensiv gedehnt wird. Vielleicht schießen manche Personen über das Ziel hinaus und dehnen sich zu intensiv, was in Übermaß zu Verletzungen führen kann. Doch wenn weniger Dehnen zu kaum messbaren Erfolgen führt, gibt es dann so etwas wie einen "Sweat Spot" wo Stretching zu einem optimalen Ergebnis führt? Dass man durch Dehnen einen Schaden nehmen kann ist relativ selten. Dennoch kann festgehalten werden, dass es zumindest nicht die Verletzungswahrscheinlichkeit reduzieren kann (3)(4).
Betrachtet man die Literatur fällt auf, dass es deutlich mehr kritische Stimme gegen das Dehnen gibt als dafür. Dabei ist es auch nicht wirklich relevant, welche Methode gewählt wird, da keine Dehnmethode besser ist als die andere (2). Häufig wird die Methode "Contract Relax" als Unterform von PNF (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation) den anderen Dehnmethoden als Überlegen dargestellt. Im Prinzip wird dem Dehnreiz nur eine isometrische Kontraktion beigesteuert - ansonsten ist der Unterschied minimal. Wahrscheinlich ist CR anderen Dehnmethoden in der Tat nicht überlegen - im Sinne der Verbesserung der Flexibilität zumindest (5). Ich selber verwende gerne CRAC (Contract Relax Antagonist Contract) in der Praxis. Es zeigt sich, dass sich dadurch die Ansteuerung der Muskulatur und gleichzeitig die Bewegungsamplitude verbessern lässt. Wirklich valide Studien dazu habe ich jedoch nicht. Es handelt sich nur um subjektive Beobachtungen. Daher weiß ich, dass sich viele weiter Dehnen werden, unabhängig davon, was die Studienlage aussagt. Stretching schafft einfach ein gutes Gefühl (Ergänzung: ich verwende CRAC gerne als 3x30 Methode: 30 Sekunden Agonistkontraktion, gefolgt von 30 Sekunden Antagonistkontraktion insgesamt für 3 Runden).
Unabhängig vom subjektiven Gefühl ist die Frage legitim welchen greifbaren Zweck Stretching hat. In Bezug auf die oben angeführte Liste möchte ich auf den Punkt der "körperlichen Leistungsfähigkeit" eingehen. Statisches Stretching erhöht nicht die Leistungsfähigkeit, während dynamisches Stretching in einigen Untersuchungen aufzeigen konnte, dass dadurch die Kraft bei Frauen gesteigert werden konnte (6). Darüber hinaus gibt es wiederum Untersuchungen, die aufzeigen, dass Dehnen die Maximalkraft und die Explosivkraft reduzieren kann. Wie kommen die unterschiedlichen Studienergebnisse zu Stande? Zum einen auf Grund individueller Unterschiede (Responder vs. Non-Responder) und natürlich auch in Bezug auf das jeweilige Studiensetting. Was im Endeffekt zu einer Reduktion der Leistung führt, ist entweder der Reduktion des Muskeltonus oder der reduzierten neuromuskulären Ansteuerungsfähigkeit geschuldet. Prinzipiell lässt sich auch davon ausgehen, dass ein gewisses Maß an Stretching die Sympathikusaktivität herabsenkt, was zu einem geringeren Erregungsniveau führt, welches die Leistungsfähigkeit negativ beeinflussen kann. Somit kann Stretching in manchen Fällen einen Vorteil auf die Leistung haben und in anderen Fällen eher von Nachteil sein. Da man beinahe immer einen Kraftverlust riskiert, entscheide ich mich meistens für den Verzicht von Stretching, um das Risiko einer Verletzung oder Leistungsreduktion zu vermeiden. Daher würde ich ebenfalls kein CRAC vor einem intensiven Krafttraining durchführen. Ich würde es höchstens als "Movement Prep" vor hypertrophieorientiertem Training anwenden. Hierbei sehe ich in der Tat einen möglichen positiven Übertrag von CRAC auf das Krafttraining.
Sogar das Form Rolling zeigt einen größeren Nutzen vor einer sportlichen Betätigung als das Stretching (7). Foam Rolling verbessert als akuten Effekt die Flexibilität ohne die Leistungsfähigkeit einzuschränken. Die Kraftwerte bleiben konstant, während sich das Maß der Flexibilität verbessert. "Akut" bedeutet in diesem Kontext, dass sich die Beweglichkeit nur kurzfristig verbessert, es aber keinen anhaltenden Effekt gibt. Diese Aussage sollte jedoch nicht verwundern, da sich "Langzeiteffekte" immer nur durch konsequentes und langfristiges Training ergeben. Man sollte niemals nach nur einer oder wenigen Interventionen ein signifikantes und nachhaltiges Ergebnis erwarten. Der Körper muss zuerst adaptieren, was einige Zeit in Anspruch nehmen kann. Form Rolling besitzt zusätzlich eine sensorische Komponente. Foam Rolling aktiviert die Rezeptoren der Haut, was meiner Ansicht nach einer der Hauptwirkmechanismen darstellt. Die Haut ist das größte sensorische Organ des Körpers. So ist es nicht verwunderlich, dass eine starke sensorische Aktivierung zu einer verbesserten motorischen Funktion führen kann.
Mel Siff hat eine klare Meinung zum #Stretching:
"In other words every movement should be performed to enhance flexibility, strength, speed, local muscular endurance and skill, so that separate stretching sessions then become largely redundant.“
Beweglichkeilstraining sollte demnach aus der athletischen Bewegung heraus erfolgen. Stretching sollte daher nicht als eigenständige Trainingsmaßnahme durchgeführt werden, sondern eher als indirekter Bestandteil einer jeden Bewegung genutzt werden. Dies ergibt Sinn, wenn man betrachtet, dass Flexibilität immer kontextspezifisch ist und es selten einen konkreten Übertrag von Stretching zu sportartspezifischen Bewegungsmustern gibt. Stretching ist eine erlernte Fähigkeit wie andere Bewegungen auch. Jedes Bewegungsmuster benötigt ein spezifisches Maß an motorischer Kontrolle und Flexibilität. Daher bleibt es zweifelhaft, ob unspezifisches Stretching den gewünschten Übertrag an Flexibilität zur gewünschten Sportart schafft. Eliot Kipchoge ist der aktuelle Rekordhalter im Marathon und kann in der Vorwärtsbeuge noch nicht einmal seine Füße berühren (9).
Kann man überhaupt mit Stretching die #Flexibilität erhöhen? Obwohl Stretching nur langsam die Beweglichkeit erhöht, gibt es dazu eine klare Studienlage: Ja, Stretching erhöht durchaus langfristig die Flexibilität (8). Die Frage die man sich stellen sollte ist viel mehr: wofür? Wenn Stretching keinen wirklichen Nutzen hat, ist die Frage legitim, was eine erhöhte Flexibilität bringt. Meiner Ansicht nach, wünschen sich Viele eine erhöhte Flexibilität nur um der Flexibilität willen. Stretching verbessert das Körpergefühl und man fühlt sich danach weniger steif und eingeschränkt. Das Bewegungsgefühl ist sicherlich ein positiver Effekt des Stretchings, was nicht nur eine positive Wirkung auf das Nervensystem hat, sondern auch ein positives Wohlbefinden schafft. Ich zweifle jedoch daran, dass ein gesteigertes Maß an Flexibilität zu einer Erhöhung des Wohlbefinden führt als das Stretching an sich- der Weg ist demnach das Ziel. In meiner Praxis erlebe ich immer wieder Athleten, die eine gute Beweglichkeit besitzen, sich aber dennoch steif und unbeweglich fühlen. Auch die beweglichsten Athleten können mit einem steifen Rücken aufwachen. Beweglichkeit ist nicht immer objektiv, sondern manchmal einfach nur ein Gefühl.
Wieso verbessert sich eigentlich unsere Flexibilität? Was sind die zugrundeliegenden Mechanismen? Wenn von Stretching gesprochen wird, bezieht es sich immer auf eine Verlängerung des myofaszialen Gewebes. Einige Muskeln können zwar verlängert, aber nicht gedehnt werden. Für einige Muskeln gibt es anatomische Grenzen, die Dehnen unmöglich machen. Dazu gehören z.B. kleinere Muskeln wie der Masseter oder die suboccipitale Muskulatur, aber auch größere Muskeln wie der Pectoralis Minor oder der Supraspinatus. Wenn kein adäquater Dehnreiz gesetzt werden kann, kann der betreffende Muskel auch nicht gedehnt werden. Wir sind zwar in der Lage die Verlängerung des Muskels zu spüren, was aber nicht mit einem signifikanten Dehnreiz gleichzusetzen ist. Um das Gewebe zu dehnen, muss meist ein starker Reiz gesetzt werden, der das Gewebe zu einer Adaptation zwingt. Doch auch wenn ein Muskel gedehnt werden kann, muss man die Hintergründe beleuchten, die zu einer Veränderung der Flexibilität beitragen. Einige Untersuchungen zeigen auf, dass Dehnen zwar die Flexibilität verbessern kann, es aber zu keinerlei Veränderungen im Muskelsehnenappart kommt (10). Entweder sind andere fasziale Bestandteile involviert oder Dehnen bewirkt primär eine neuronale Veränderung und weniger eine strukturelle. Eine gängige Theorie besagt, dass Stretching primär die Dehntoleranz erhöht, was zu einer gesteigerten Flexibilität führt. Dies deckt sich mit Untersuchungen, die aufzeigen konnten, dass sich die Flexibilität auch ohne Veränderungen des Gewebes verbessern lässt (11). Die Dehntoleranz scheint ein wichtiger Faktor beim Stretching zu sein. Durch das konstante Dehnen wird unsere Dehntoleranz erhöht, was es uns ermöglicht stärker und intensiver in die Dehnposition zu gelangen. Der initiale Dehnschmerz nimmt ab, was zu einer verbesserten Bewegungsamplitude führt. Es scheint tatsächlich, dass strukturelle Veränderungen weniger wichtig als neuronale Anpassungen sind (12)(13)(14). Um die Dehntoleranz zu verbessern müssen wir aus der Komfortzone heraustreten und bis zum initialen Dehnschmerz stretchen. Daraus resultiert eine Anpassung an die Belastungsempfindung. Gleichzeitig muss dennoch bedacht werden, dass intensives Stretching die Verletzungsanfälligkeit erhöhen kann (siehe oben). Es gilt also das geeignet Maß zu finden und sich nicht zu überfordern.
Einige Studien, die Stretching mit Vibrationen kombiniert haben, konnten aufzeigen, dass sich dadurch die Flexibilität deutlich erhöhen ließ. Dies gilt auch für Athleten, die bereits eine gute Beweglichkeit besitzen. Stretching kombiniert mit Vibrationen führte zu einem größeren Anstieg an Flexibilität als Stretching ohne Vibration (15). Hierbei wurde mit 44Hz und einer Amplitude von 3mm gearbeitet. Eine interessante Studie, die aufzeigt, dass es sicherlich Verbesserungsmöglichkeiten im Beweglichkeilstraining gibt und man einige Maßnahmen ergänzend nutzen sollte, um bessere Effekte zu erzielen.
Ich persönlich lege den Fokus weiter auf gezieltes "Mobility Training" und nutze Stretching nur punktuell sofern es zu der betreffenden Person in die jeweilige Situation passt. Bevor man also dehnt, sollte man sich die primären und essentiellen Fragen stellen: für wen und was ist das Ziel?
Weitere Informationen zum Mobility Training und Stretching erhältst du in der RELEASE FITNESS-Fortbildung "RF MOBILITY ESSENTIALS" vom 18.-19. Mai.
Quellen:
(1) https://bjsm.bmj.com/content/48/11/871.long
(2) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21802037
(3) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10593217
(4) https://www.bmj.com/content/325/7362/468.full
(5) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28182516
(6) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18714235
(7) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27736289
(8) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11992980
(9) http://www.sweatelite.co/training-eliud-kipchoge-5-things-suprised/
(10) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28801950
(11) https://academic.oup.com/ptj/article/90/4/647/2888241
(12) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28255938
(13) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24947023
(14) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28801950
(15) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18091012